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PM: Triage bei COVID-19: „Wir entscheiden nicht nach Alter oder Behinderung“ – Intensiv- und Notfallmediziner aktualisieren klinisch-ethische Entscheidungsempfehlungen
Für die schwerste aller Entscheidungen sind Deutschlands Notfall- und Intensivmediziner vorbereitet: Sollten während der COVID-19-Pandemie Intensivbetten und Ressourcen knapp werden, müssen Mediziner im Fall der Fälle zwangsläufig entscheiden, welche Patienten intensivmedizinisch behandelt und welche palliativmedizinisch versorgt werden. Damit dies auf einer fundierten Grundlage geschieht, haben Experten aus acht Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet, die jetzt in einer aktualisierten Fassung erscheinen. „Wir haben unter anderem deutlicher klargestellt, dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind. Zudem wurde die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben“, sagt Professor Uwe Janssens (rechtes Foto), Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. „Wir Ärzte brauchen eine fachliche wie rechtliche Sicherheit bei der Patientenbehandlung in Extremsituationen. Dabei helfen die aktualisierten Empfehlungen.“
Grundsätzlich gilt: Die Entscheidung bei der Triage sollte in einem Team aus mindestens drei Experten mit unterschiedlichen Blickwinkeln gefällt werden. Vor einem Monat haben die Autoren des Papiers „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ dazu aufgerufen, sich mit fachlichen Kommentaren und Gedanken zur Ergänzung einzubringen. „Diese Möglichkeit haben zahlreiche Privatpersonen, Interessenverbände aber auch Juristen genutzt, um in diesem schwierigen und schmerzlichen Prozess zu einer medizinisch angemessenen und gerechten Entscheidung zu kommen“, so Janssens. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), die Deutsche Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM), haben die aktualisierte Fassung in Form einer medizinischen S1-Leitlinie, die von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet wurde, verabschiedet.
Gleichbehandlung: Alter, Grunderkrankung und Behinderung sind keine Kriterien!
„Wir danken wirklich allen Beteiligten, die unsere Veröffentlichung mit Kritik und fachkundigen Ergänzungen bereichert haben“, so die federführenden Autoren Georg Marckmann (linkes Foto, München), Gerald Neitzke (Hannover) und Jan Schildmann (Halle), die die zahlreichen Kommentare gesichtet haben. In der überarbeiteten Fassung werden zentrale Punkte der Empfehlungen noch deutlicher formuliert, um Missverständnisse zu vermeiden. Es wird klargestellt, dass die in den Empfehlungen genannten Krankheitszustände keine Ausschlusskriterien darstellen, sondern im Einzelfall hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Erfolgsaussicht der Therapie berücksichtigt werden sollen. Grunderkrankungen, das kalendarische Alter, soziale Aspekte und Behinderungen sind keine legitimen Kriterien für Triage-Entscheidungen. Es gelte der Gleichheitsgrundsatz. In Deutschland werde nicht dem 80-Jährigen von vornherein die Behandlungsmöglichkeit verweigert. Es wird differenziert: Der Schweregrad der aktuellen Erkrankung und relevante Begleiterkrankungen wie zum Beispiel schwere vorbestehende Organdysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung spielen eine wesentliche Rolle.
„Bei der klinischen Erfolgsaussicht geht es um die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die aktuelle Erkrankung mithilfe der Intensivtherapie überleben wird. Die längerfristige Überlebenswahrscheinlichkeit und Lebensqualität spielen dabei keine Rolle“, sagt Professor Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München, und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin. DIVI-Präsident Janssens ergänzt: „Wir betonen ganz deutlich, dass aus Gründen der Gleichberechtigung im Falle einer notwendigen Triage immer eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen soll, die eine Intensivbehandlung benötigen. Und das auch ganz unabhängig davon, ob der Patient gerade in der Notaufnahme, der Allgemeinstation oder der Intensivstation versorgt wird. Es ist auch ganz gleich, ob es sich um einen COVID-19-Infizierten, einen Schlaganfall-Patienten oder ein Unfallopfer handelt.“
Leitlinie absolut praxistauglich – Patientenwille noch vor der Klinikaufnahme prüfen
In der überarbeiteten Leitlinie werden auch die Empfehlungen für den ambulanten Behandlungsbereich konkretisiert: Es sei notwendig, dass noch vor der Aufnahme auf die Intensivstation die Indikation und der Patientenwille geprüft werden. „Das sind entscheidende und sehr wichtige Aspekte, die vor der Therapie ganz genau geprüft werden müssen“, sagt Janssens. Maßgebliches Kriterium für eine unausweichliche Priorisierung bleibt die klinische Erfolgsaussicht der Intensivbehandlung – also die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. Damit soll die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimiert werden.
Die Entscheidungen müssen medizinisch begründet sein. Und es muss gerecht zugehen. Bereits die Erstveröffentlichung des Ethikpapiers wurde breit diskutiert, der Deutsche Ethikrat nahm in seiner, wenige Tage später veröffentlichten Ad-hoc-Stellungnahme Bezug auf die Empfehlungen. „Angesichts der nach wie vor fragilen Situation und der letztlich bleibenden Frage, was zu einem Zeitpunkt ohne ausreichende medizinische Ressourcen geschehen soll, halte ich die vorliegende Leitlinie für absolut praxistauglich“, sagt DIVI-Präsident Uwe Janssens, zugleich auch Sprecher der DIVI-Sektion Ethik. „Wir alle kennen die Bilder von Kollegen aus Spanien oder Italien. Viele sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Daher kann unser Kriterienkatalog eine wertvolle Stütze sein!“
Webinar-Einladung für Journalisten und Interessierte:
„Triage – wer wird behandelt, wer nicht?“
Freitag, 24. April 2020
15 bis 17 Uhr
Es diskutieren mit:
- Prof. Dr. med. Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, Sprecher der DIVI-Sektion Ethik.
- Prof. Dr. med. Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München, und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin
- Katrin Langensiepen, Abgeordnete des EU-Parlaments (Fraktion: Grüne/EFA), Vorsitzende des EU-Rahmens für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (Gastgeberin des Webinars)
- Nancy Poser: Juristin, Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ)
Zuschauer haben die Möglichkeit, direkt Fragen zu stellen. Entweder über die Chat-Funktion oder mündlich, indem sie auf das Hand-Icon neben dem Mikrofon drücken. Das Mikrofon wird dann vom Moderator auf laut gestellt.
Hier gibt es die Mitschrift sowie die Aufzeichnung des Webinars.
Fotos:
Univ.-Prof. Dr. Georg Marckmann, MPH (links): Yves Klier
Prof. Dr. Uwe Janssens (rechts): Mike Auerbach
Pressekontakt der DIVI
Pressesprecherin der DIVI
Tel.: 089 / 230 69 60 21
E-Mail: